"Tempest"

Bob Dylan

Ein gutes, konsequentes, an manchen Stellen einfach nur solides Album


Exzerpt aus dem Artikel von JOACHIM HENTSCHEL


TEMPEST

01 "Duquesne Whistle"
02 "Soon After Midnight"
03 "Narrow Way"
04 "Long And Wasted Years"
05 "Pay In Blood"
06 "Scarlet Town"
07 "Early Roman Kings"
08 "Tin Angel"
09 "Tempest"
10 "Roll On John"



Vor ein bisschen mehr als 51 Jahren, Ende Juni 1961, als John F. Kennedy amerikanischer Präsident war, versank im Hudson River, ganz in der Nähe von Bob Dylans damaligem Wohnort, ein überfüllter Ausflugsdampfer. Der 20-jährige Dylan machte daraus den "Talkin' Bear Mountain Picnic Massacre Blues", ein hastiges, trockenes Lied, das mit seinen kleinen Versen an jeder Lyrik-Theorie links oder rechts vorbeisprintet und durch die Stimme seines Dichters eine Wahrheit kriegt, die es vorher vielleicht gar nicht hatte.

"Tempest" ist der Titelsong von Bob Dylans neuem, 35. Studioalbum, das in Deutschland am 7. September 2012 erscheint. Und in dem geht es fast eine Viertelstunde lang wieder um einen Schiffsuntergang, den der Titanic.

Dylan und seine Band spielen auf „Tempest“ (Sony) ausschließlich alte Musik. Der Blues, die 20er-Jahre-Schwofmusik, der Holzplanken-Country, der Krokodil-Voodoo-Rockabilly klingen bei Dylan bierernst und felsenschwer, völlig uninteressiert am Unterhaltungswert und an Drei-Minuten-Regeln.

Als könne seine Band ganz entspannt und ungestört arbeiten, seit Elvis, die Beatles, Prince und Rihanna sich im Ganztags-Pop-Betrieb um all die aufgeregten Jugendlichen kümmern. So grollend, ungebeizt, losgelöst und altmodisch wie auf „Tempest“ klingt er seit rund 15 Jahren.

So gesehen ist an diesem Album nichts überraschend. Höchstens, dass er schon lange nicht mehr solche ausufernden Geschichten erzählt hat. In dem 14-Minuten-Titanic-Lied singt Dylan 45 Strophen über ein kleines Walzermotiv mit Fiedel und Akkordeon, ohne Refrain, als gäbe es Nachrichten zu verkünden.

Diese Art des Bänkel-Singens wirkt mindestens so uralt wie die Musik, die er dazu spielt. Dylan hält seine Geschichten aber weit von sich weg. Am ausgestreckten Arm, mit zitronensaurem Gesicht. Es gibt keinerlei Identifikationsfiguren in den Songs auf „Tempest“, kein Mitgefühl, keine Illusion, keine klassische Originalität.

Wer sich als treuäugiger Lieder-Liebhaber gerne den Tag mit der Dichtkunst  verschönert, wird verzweifeln an einem Stück wie „Tin Angel“, in dem Dylan – zu einem gruseligen, sich wie ein satanischer Seehund durch den ganzen zehnminütigen Song windenden Basston – eine unglaubliche, archaisch und dunkel blutende, an den alten Folksong „Henry Lee“ angelehnte Eifersuchts-Massenmord-Schnurre erzählt und dazu die absolut naheliegendsten Metaphern und Dialogzeilen verwendet.

Es geht hier nun mal um Distanz. Darum, ein paar große Schritte zurückzutreten und die Dinge so vielleicht besser sehen und kapieren zu können. Dylan will in seinen Stücken keineswegs die Geschichten von früher aktuell machen, er streut sie viel lieber wie Sand über die Gegenwart, damit die so schön alt aussieht, wie sie eigentlich ist.

Dank Dylan ruht die Titanic jetzt wieder auf dem Atlantikboden, wo sie uns, dunkel und voller Schutt und Rost, viel mehr über die Abgründe der weltsegelnden Menschheit sagen kann, als ein Film über einen hell erleuchteten Ausflugsdampfer.

Die Geschichte von Bob Dylans Karriere, wie immer sie auch weitergehen wird, ist mittlerweile selbst eine Art Song geworden. Mit „Tempest“, diesem sehr guten, konsequenten, an manchen Stellen auch einfach nur soliden Album, lässt er uns aber höflicherweise wieder die Wahl.

Er könnte Johannes der Täufer sein, der klarsichtige Prophet, oder der alte, vor sich hinschimpfende Schrumpelmann in der Ecke der Kneipe. Sollte er der sein, dann hoffentlich noch so lange, bis er die nächste Schiffs-Katastrophe vertont und verdichtet.


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Der Sandmann
Auf seinem neuen Album erzählt Bob Dylan von Schiffbrüchigen und Mördern und spielt dazu Musik, in der sich ganze Jahrhunderte finden

Von JOACHIM HENTSCHEL
Süddeutsche Zeitung, 1./2. September 2012


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