Wolfgang Niedeckens BAP in Herborn

Toll - aber ein nächstes Mal nur noch mit nummerierter Bestuhlung

###

Nach 1986 ist Herborn vom 20. bis 29. Mai 2016 ein zweites Mal Ort eines Hessentages ("So bunt ist das Leben"), und für den 25. Mai wurden dazu auch Wolfgang Niedeckens BAP für einen Auftritt eingeladen. Warum also nicht die, auch geographisch naheliegende Gelegenheit wahrnehmen und nach 36 Jahren zum dritten Mal den Gründer dieser Band aus der Kölner Südstadt, mit seiner aktuellen Besetzung auf ihrer "Lebenslänglich"–Tour, original zu erleben. Das erste Mal war’s 1980 in der PH (Pädagogische Hochschule in Köln-Sülz) und später im Sartory in Köln, was uns für viele Jahre zu treuen Liebhabern und Erwerbern lückenlos aller Vinyl-Protokolle dieser Kapelle werden ließ.

###

Das ist die Motorhaube unseres geliebten R4, die als einziges Teilstück dieses, für uns perfektesten Personenkraftwagens aller Zeiten eine Kollision mit einem Magirus-Deutz-Lastkraftwagen unverbeult überlebte. Sie dient nun schon fast ein halbes Leben als Wohnzimmer-Beleuchtung. Die graphische Gestaltung ihrer Oberfläche protokolliert, mehr oder weniger stilvoll, unsere Hingabe für einige Musik-Kooperativen der 80er Jahre, um BAP, in Köln und drum herum.

Zu ein paar Fotos.

###

Eine Begeisterung, die dann aber unmerklich verblasste und eigentlich erst durch die beiden letzten Platten, vor allem die aktuelle von 2016 mit richtig neuem Schwung, irgendwo in die Nähe des alten, euphorischen, Anfang der 80er Jahre gehievt wurde. Nach nun mehr als drei ein halb Jahrzehnten in enger emotionaler Nähe zur Musik dieser Bühnen-Kooperative um Wolfgang Niedecken herum, mit und in der Kölner Südstadt, Stollwerck-Sanierung und Chlodwig Eck, wird es sehr interessant sein, welche Wirkung ein Auftritt mit angekündigten Best-off-Stücken auf unsere ebenso gealterte musikalische Seele haben wird. 

Wir haben uns fest vorgenommen, nicht zu nörgeln, wenn etwas nicht passt. Nicht die unsympathisch böse meckernden, stimmungskillenden Faltensäcke zu geben. Aber auch nicht matt, langweilend altersmilde flackern, wenn es denn passt. Dem weisen Gerhard Polt folgend, wollen wir uns im Zweifelsfall nur noch wundern. Wie etwa über Eintritts"karten"-Ausdrucke des IT-Zeitalters, die dem Scanner am Einlass, auf die nackte Funktion der Strichcode-Identifizierung reduziert, mit steinzeitlichem Papier-Büro-Charme kommunizieren: "Der Besitzer dieses Belegs über die Entrichtung eines korrekten Betrags hat Zutritt zu diesem Ort zu dieser Zeit!". Immerhin lassen "Karten" dieser Art nicht den Funken einer Idee aufkommen, sie als Erinnerungs-Reliquien an die Wand zu "bappen", oder in ein Buch zu legen. Anders als die, die es mal gab, mehr oder weniger liebevoll, immerhin aber graphisch gestaltete, im Wortsinne, Eintritts"Karten". Also etwas, das zu mindestens schon mal dicker und sperriger ist als normales Papier. So, was denn? Wir folgen brav dem Motto der www-Zeit: Anything goes?! Keep prosaic. Geht doch nur um "‘was auf die Ohren".

Und noch einmal was zum Wundern. So wären wir doch in keinem noch so wüsten Drogentraum darauf gekommen, dass wir einmal der Chefin der Bundeswehr, Frau von der Leyen, unserer möglichen neuen Bundespräsidentin?!, Dankeschön sagen würden. Danke für die bequeme, sorgenfreie Fahrt zum Auftrittsort, ohne teure Parkplatzsuche und spät in der Nacht wieder zurück nach Heisterberg. Ein Angebot der Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland für Behinderte und Senioren im Einzugsbereich des Hessentages. Ein ganz großes Prima! geht von uns vor allem an die vier Soldaten, die diesen Taxi- Dienst für uns realisiert haben. Das sagen heute zwei, die sich bekennen, zur Kohorte der ominösen 68er zu gehören, die ganz und gar nicht begeistert waren, als die  Bundesrepublik schon zehn Jahre nach dem verheerendsten aller Kriege wieder militarisiert wurde. Besonders, nachdem ein gewisser Franz Josef Strauß noch 1949 gesagt hatte: "Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen". Sie ist ihm nicht abgefallen, und 60 Jahre später haben sich alle, Gegner und Befürworter der Bundeswehr, darauf geeinigt, dass dieses Deutschland es sich verdient hat, auch mit Waffengewalt verteidigt zu werden, wenn es denn sein muss. Ist doch schön, welchen Windungen die Geschichte folgt.

###

Der Auftrittsort ist ein beinahe beängstigend großes Zelt hinter dem Herborner Gymnasium, am Walkmühlenweg. Verdunkelter Bühnen- und Vor-Bühnen-Bereich. Die Bürger der Stadt Herborn und die Hessische Staatskanzlei haben es sich nicht nehmen lassen, sie haben geklotzt. Der Boden um das Zelt und im Zelt ist flächendeckend edel mit Holz- oder Gummi-Platten stolperfrei zugelegt. Fassungsvermögen: 8 bis 10 Tausend? Für ein BAP-Konzert an einem Mittwoch mehr als hundert prozentig ausreichend überdimensioniert.

Einen Auftrittsort möglichst früh zu entern macht immer besonders dann Sinn, wenn man bei nichtbestuhltem Auditorium einen Platz zum Skelett-schonenden Anlehnen an der Mixerumrandung ergattern möchte. Dafür waren wir heute aber, schon um 19.15 Uhr, eine Dreiviertelstunde vor Konzertbeginn, viel zu spät dran. Also: Stehen bis zum Ende! Für meine Lendenwirbelsäule nach 71 Sonnen-Umrundungen ein besonderer Härtetest. Noch mehr für die Fußsohlen. Am Ende waren beide Schmerzquellen der einstimmige Auslöser für ein vorzeitiges Verlassen des Veranstaltungsortes schon nach etwas mehr als drei einhalb Stunden... im steif-hüftigen Roboter-Gang früher SciFi-Filme...

###

Doch, zurück auf Angang. Schon jetzt, wohl gerade vor über die Anlage laufender Hintergrundmusik, zeigte sich eine äußerst beeindruckende Eigenschaft dieses Zeltes. Der akustische Quassel-Teppich des eintrudelnden Publikums wird hier nicht, wie sonst in solchen Menschenansammlungen, durch die Schall-streuende Wirkung der Leiber der Anwesenden selbst wohltuend zu einem einschläfernden Gänsegeschnatter geschrumpft. Unter speziell den Wänden dieses Riesenzeltes verdichtet sich aber offenbar die unvorstellbare Traatsch-Invasion zu einem schneidend weiß zischenden Rauschen von Echokaskaden. Verkrampfende Muskeln in und um die Gehörmuscheln und –gänge erinnern mich an verdammt gut gelaunte Unterstufenklassen, vor und nach der großen Pause und lassen das erste kräftige Lebenszeichen der PA herbeisehnen, das diesen schmerzenden Pegel, egal wie und womit, niederbrüllt.

Und, höre da, fast pünktlich, kurz nach acht geht es los. "Frau ich freu‘ mich", von der LP "Für usszeschnigge" (1981) und "‘Ne schöne Jrooss", von "affjetaut" (1980). Da ist es, das beglückende Gefühl der Erinnerung an eine optimistische, starke Zeit in der Kölner Südstadt. Und in dem Riesenzelt in Herborn sagt uns unmittelbar Alles: So darf der Abend weitergehen...

Doch bald kommen Stücke, die wieder hervorholen und so viele Jahre später bewusst machen, wann wohl und vielleicht auch warum die anfängliche Begeisterung für BAP im Laufe der 80er Jahre langsam verblasste. Zwischen "Ahl Männer aalglatt" (1986) und "Schlagzeiten" (1987) war das.

Ob wir es uns einbilden? Elke meint: Es sind all die Stücke, bei denen das Publikum mitsingt. Zu der Zeit war noch dieser begeisternde, tief sitzende "BAP-Funke" da, der auf uns bis heute unverändert überspringt und auch in Zukunft funktionieren wird. Ich glaube ihr. 

Nun hat es lange gedauert, bis "Zosamme alt" (2013) und so richtig erst wieder mit dem neuesten Album "Lebenslänglich" (2016), dass Wolfgang Niedecken einen neuen Funken zu uns geschlagen hat, der an den der ersten Jahre herankommt. Und mit diesem Gefühl stehen wir hier am Hessentag in Herborn und erleben einen Gig der "Lebenslänglich NIEDECKENS BAP Jubiläumstournee 1976-2016". So scheint es der Mehrheit des heutigen Publikums auch zu gehen. Durchschnittsalter 50, also von Niedeckens Altersgenossen bis zu virtuellen Kindern und deren Kinder. Erkennungszeichen: Mitsingen (wenn man mich gnädig ausnimmt, bin ja mehr als zwanzig über dem Publikums-Altersdurchschnitt und Stimm-gehemmt).

Noch etwas Wundersames, das seine Einstellung zu seiner Band betrifft: Nach einem "Vier-Liebeslieder-im-Sitzen-Block" meint Wolfgang Niedecken, verkünden zu müssen, dass eins der Stücke erstmals mit dieser tollen Kombo so gespielt werden konnte, wie er es sich immer erträumt habe. Da ging uns dann unwillkürlich doch durch den Kopf: Komisch, die Stücke, die für uns "die mit dem Funken" sind, die wurden fast alle gespielt mit "Major" Klaus Heuser an der Leadgitarre.

So etwas ähnliches wie "diesen Funken" konnte man dem Gitarren-Intro des aktuellen Gitarristen zu "Jupp" in unseren Ohren leider nicht nachsagen. Auf mich wirkte es lieblos? oder - noch schlimmer - nicht genügend geübt. Beinahe zombihaft verwundernswert bei diesem Stück war auch das Verhalten des Herborner Publikums. Volle-Kanne-Klatsch-Modus in einen Text hinein, der nichts als absolute Stille verdient hat. Gegen diese "Hirn abstinente" Art anzureden hat sich Wolfgang Niedecken über die Jahre wohl "abgeschminkt". Keinen Bock mehr auf verbale Schischifusch-Plackerei?!.

Ebenso widersprüchlich wie der aktuelle Gitarrist, so kommt für mich auch der Tastenmann 'rüber. Als habe er Motivationsprobleme, wenn es darum geht, 1zu1 zu covern. Es gibt ja selbsternannte Möchtegern-Genies, für die genau das unter ihrer Würde zu sein scheint, oder die das - im Klartext - nicht können, bestenfalls einfach nicht wollen??

Da wir gerade wieder beim Wundern sind, die gelobten "multiinstrumentellen Impulse" der Dame in der Bühnen-Kooperative – das Cello: Toll, lässt den Steff nicht ganz vermissen! -  wirken für mich an vielen Stellen etwas zu dick aufgetragen. Einige Klang-Gimmics (z.B. manirierte Echo-Wiederholungen, wie im wunderbaren "Absurdistan") wirken aufgesetzt, selbstverliebt, also eigentlich Ur-BAP-untauglich. Was mit einem "farbechten" BAP-Mixer alles zu bügeln wäre.

BAP-Musik wird ja traditionell nicht eben von einem Schlagzeug mit extrovertierter Virtuosität getragen. Prosaische Stücke-Dienlichkeit ist eher gefragt. In diesem Sinne macht das männliche Küken der Band einen gute Job. Prosaisch auch Bass und Percussion. Danke, ohne Soli!

Was einem Freund guter Rockmusik allerdings einen großen Akt der Verwunderung abnötigte, das war die mutmaßliche Kapitulation der BAP-Klang-Verantwortlichen vor TekNO-Wummtata-Hör"gewohnheiten" in Gestalt dieses meilenweit dröhnenden, synthetischen Generves, das offenhörlich der Bass-Trommel-Sound sein sollte. Man kann sie ja verstärken, bis an die Grenzen eines gerade noch ausgewogenen, erträglichen Gesamtklangs. Aber eine Bass-Trommel sollte ihren unverzichtbaren Beitrag zur Rockmusik, unbedingt abgenommen von der analogen Aktion ihres real angeschlagenen Fells leisten dürfen. Sehr enttäuschend für ein BAP-Konzert! Wenn wir schon beim Breitbnd-Abwundern sind: Die Licht- und Video-Orgien, direkt aus der Werbeabteilung der Bühnen-Technik-Hersteller (auch wenn sie wohl heute vom Hessischen Rundfunk geliefert werden?!) braucht BAP-Musik nicht.

###

Irgendwann dann der schwärmende Genuss von "Jraaduss" und natürlich des absoluten Bringers: "Verdamp lang her". Hier die Video-Bemühungen unseres steinalten hTC-Häändies:

Endlich hat es doch noch geklappt, mein erstes Video-Protokoll eines Live-Stücks dieses Konzerts vom Mäusekino auf den Rechner zu übertragen. Zur "Qualität": Entweder ist das hTC in den E-Bass verliebt, oder der Mixer liegt heftig daneben. Was der liebe Herr Kopal, unabhängig davon, derart weit im Vordergrund produziert, gerät auf diese Weise, neben der grundsätzlichen Frage der harmonischen Passform, allein durch die unweigerliche Wahrnehmbarkeit schon "etwas daneben". Den stupiden Klatschreflex des Publikums zu stoppen, gelingt bei diesem Stück - allerdings nur mit viel szenisch suggestivem Aufwand - dann doch wenigstens einmal.

###

Nach mehr als drei Stunden stehenden Verweilens ist bei mir die Toleranzgrenze für eine langsam zumachende Lendenwirbelsäule und zwei schmerzende Fußsohlen endgültig überschritten. Wir bewegen uns – ich wie ein hüftlahmer John Wayne in Zeitlupe - gen Ausgang. Wunderbar untermalt durch das zauberhafte "Alexandra, nit nur do" ("Zwesche Salzjebäck un Bier")... "'t blieht länger hell jetz – obwohl: 't ess immer noch Februar ..." brilliant. Je weiter wir uns von der Bühne entfernen, desto weniger bleibt von seiner Musik übrig.

Vor dem Mammutzelt, das nun wie ein gigantisches Raumschiff in der Nacht hinter uns liegt, finden wir instinktiv die beiden Soldaten, die uns nachhause nach Heisterberg bringen werden. Und schon hier ist von BAP nur noch das zeit-un-geistige Bass-Gewummer übrig. Nicht gerade der schönst-wünschbare Abschied von einem, in der Summe doch ober-tollen, feinen Musik-Erlebnis.

Aber mit dem herzlichen Dank an die Bundeswehr und ihre vier "Kämpfer", verbunden mit einem grandiosen Gewinn von Sympathie an der Seniorenfront, können wir uns diesen Synthetik-Kanonendonner doch  noch im militärischen Sinne "schönsaufen".

Wie es wohl nur einem Ehepaar in seinem 45sten gemeinsamen Jahr vorbehalten ist, so fällt unser Facit fast unisono so aus:
"Neppes, Ihrefeld und Kreuzberg" ("Wolfgang Niedeckens BAP rockt andre kölsche Leeder"),
"Südstadt verzäll nix" ("Für usszeschnigge"),
"Helfe kann dir keiner" ("Affjetaut") und
"Wellenreiter" ("
Vun drinne noh drusse") ...
wären noch super gewesen. Wir könnten uns sehr gut einen weiteren Besuch eines Konzerts unserer Lieblingsband der 80er Jahre vorstellen,

... wenn sich hoffentlich(!) herausstellen sollte, dass Wolfgang Niedeckens Teilnahme an dem Dünn-Brett-Format "Sing meinen Song" (mit der Transformation von "Du kannst zaubere" in 99 heiße Luftbalons, noch viel unverzeihlicher, mit der Räpp!-Verhunzung von "Kristallnaach") das Resultat eines Anfalls Musik-soziologischer Umnachtung war. Diesen medialen Faux pas mal unterstellt und vorauseilend verziehen...

...noch mal ein Best-off-Konzert mit klassischem BAP-Line-up um Klaus Heuser, Steve Borg, Schmal Boecker, "Effendi" Büchel ... eines "mit dem Funken", das wär‘s. Die Stückliste dieses, unseres vierten BAP-Erlebnisses enthielte dann ganz bestimmt auch einige Lieder von den beiden letzten Platten, wie "Zosamme alt" (von "Zosamme alt"), "Alles relativ" und "Absurdistan" (von "Lebenslänglich").

Wir wären dabei, allerdings unter einer weiteren Bedingung: NUR an einem Veranstaltungsort mit nummerierter Bestuhlung! Bob Dylan hat das schon vor zig Jahren hingekriegt. Wenn das kein Vorbild ist, Herr Niedecken?!

###