Jacques Romain Georges Brel


- Kurz-Biographie

- Etwas ausführlicher

- Zu einer sehr schönen Seite über Jaques Brel

- Il y a trente ans, mourait Jacques Brel

- "Der größte Belgier aller Zeiten"
- bei Sothebys, 8. Oktober 2008

- Klaus Hoffmann singt Brel -
- Sotheby's Paris versteigert Brel-Memorabilia


Jacques Brel

Vivre ce n’est pas sérieux, ce n’est pas grave.
C’est une aventure, c’est presqu’un jeu.
Il faut fuir la gravité des imbéciles ... .
 

Jacques Brel wurde am 8. April 1929 in Brüssel geboren, wo sein Vater eine Kartonagenfabrik betrieb. Nach entsprechender Ausbildung arbeitete Brel zunächst im väterlichen Unternehmen (1200 Arbeiter), gab aber mit 24 Jahren 1953 seine bürgerliche Existenz auf, ließ seine Frau Therese und seine drei Töchter Chantal, France und Isabelle in Brüssel zurück und ging nach Paris. Schon 1948 hatte Brel begonnen, Chansons zu dichten, jetzt wollte er sich ganz mit revolutionärem Elan dieser Kunstrichtung verschreiben.
"Ich schmeiße die Fenster der Fabriken ein" sagte der junge belgische Sozialist damals, doch zunächst kümmerte man sich wenig um sein Auftreten in Bistros und Avantgardelokalen (L'Ecluse, Patachou u.a.) oder etwa im Theatre des Trois-Baudets (53/54).

"Ich habe lange debütiert, fünf Jahre lang" (darunter auch mit einer Randrolle schon im "Olympia") sagte er einmal. In diese Zeit fällt auch eine Tournee mit Sydney Bechet durch die Provinz und durch Nordafrika (55) und ein Auftreten in der "Alhambra" (57). Wieder im "Olympia" in Paris, gelang ihm 1958 endlich der Durchbruch; es folgten Erfolge in der anderen großen Music-Hall von Paris, dem "Bobino" (59). Seither gehört B. zur Weltklasse der Chansonsänger. Ein "Orkan namen Brel wie ihn der "Figaro" einmal nannte, versetzte Zuhörer in aller Welt in Begeisterung.

Titel seiner wichtigsten Chansons: "Ne me quitte pas", "la Valse a mille temps", "les Paumes du petit matin", "la Statue", "les Bourgeois", "les Biches", "Mathilde", "les Moribond", "les Bonbons", "Amsterdam", "les Bigotes", "les Flamandes", "Ces gens-la", "le Cheval", "Jacky", "Mon enfance", "Fils de". Fuer das Theatre de la Monnaie in Bruessel schrieb er die Oper "Le voyage dans la lune".

Im Herbst 1966 verkündete B. nach einem Tourneeprogramm von 440 000 Kilometern (1965 reiste er durch die Sowjetunion), dem Tourneebetrieb Lebewohl sagen zu wollen. "Ich will kein alter Saenger werden", meinte er.

1968 stand er zum letzten Mal in seiner eigenen französischen Fassung des Musicals "Der Mann von La Mancha" auf der Bühne. Gefilmt hat er noch bisweilen. 1967 stand er in dem Film "Wir sind alle Mörder" (Regie Andre Cayatte) vor der Kamera. Weitere Filme: "Mont-Dragon" (71) und "Die Filzlaus"

Nachdem Brel 1975 alle Brücken zum Show-Geschäft abgebrochen hatte und sich in der Südsee in Atuona auf den Marquesas-Inseln niederließ, umgab ihn ein wahrer Nebel von Gerüchten, kritischen Arztberichten und verklärender Schilderungen seines Inseldaseins.

Unerwartet kehrte Brel im September 1977 in ein Pariser Tonstudio zurück und besang eine LP unter dem Titel "Brel" mit 12 Chansons. Melancholie wechselte mit scharfer Anklage (beleidigte Flamen machten die Platte im Brüsseler Parlement zum Debattenthema), Tristesse ueber den Verlust eines Freundes löst sich in den Träumen vom Gottdasein oder in der Karriere eines Musikers auf.

Die Plattenfirma Barclay preßte 1,8 Mio. Platten und hatte Recht, denn ganz Frankreich feierte erneut den zuweilen fast mythisch verehrten Chansonnier. Zu seiner Fernsehpräsentation bot das französische Fernsehen sogar Sozialistenfuehrer Mitterrand auf, der sich als beschlagener Kenner Brels erwies. 1978 kam seine letzte Platte heraus.

Am 9. Okt. 1978 ist Brel im Alter von 49 Jahren in einer Klinik in Bobigny bei Paris an den Folgen eines Lungenkrebses gestorben.

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Jacques Brel - Grand Jacques

"Ich glaube nicht an Gott und werde niemals an ihn glauben. Ich gebrauche Gott als äußerlichen Begriff, weil ich wie jeder Flame Symbolist bin. Gott ist ein Wort. Ich würde auch Schnellkochtopf sagen, wenn Schnellkochtopf für die Leute die gleiche Bedeutung hätte wie Gott."

Nein, so denkt sich Pater Deschamps das nicht, zu solchen Sätzen hat er seinen Schüler nicht verleiten wollen. Zwar möchte der Lehrer am Institut Saint-Louis in Brüssel dem Sohn des Fabrikaten Romain Brel die große französische Literatur nahe bringen, möchte er dem sprachgewandten Dreizehnjährigen von Verlaine, Gautier, Hugo oder Chateaubriand erzählen. Aber den Grundstein zum Atheismus seines Zöglings zu legen, das hat er nicht im Sinn, das muss er strikt von sich weisen.

Es sieht zunächst auch wirklich nicht so aus, als ob Jacques Brel in die für ihn verwerfliche Region des Unglaubens abdriften würde. Auf der Schule kann er zwar nicht als angepasst gelten, aber immerhin spielt er eifrig in der Theatergruppe von Pater Dechamps, gibt zudem als Siebzehnjähriger eine Zeitschrift mit eigener Lyrik und der von Freunden heraus. Später schließt er sich der katholischen Jugendorganisation Franche Cordèe an, singt mit seinen Kameraden in Altersheimen, Krankenhäusern und Obdachlosenasylen. 1949 avanciert Brel gar zum Präsidenten der gläubigen Gemeinschaft.

Beruflich erfüllt Jacques ebenfalls zunächst die in ihn gesetzten Erwartungen: Er tritt in die Wellpappenfabrik seines Vaters ein - auserkoren, eines Tages leitende Positionen zu übernehmen. Und auch weiterhin verlässt der angehende Unternehmer nicht die bürgerliche Schiene: 1950 heiratet Brel Thérèse Michielsen, genannt Miche, und erhält als Hochzeitsgeschenk seine erwartete Beförderung zum Verkaufsdirektor. Als ein Jahr später Miche ihre erste Tochter zur Welt bringt, scheint das Glück des jungen Paares perfekt.

Doch hinter der bürgerlichen Fassade gärt und brodelt es. Der tägliche Trott ödet Jacques an. Im elterlichen Hause, wo alles nach dem pedantischen Stundenplan des Vaters abläuft, mag er sich nicht mehr aufhalten. Er hasst es, Juniorchef zu sein, Befehle erteilen zu müssen. Er fühlt sich nicht als Manager. Den Druck des bürgerlichen Lebens empfindet er bald als unerträglich, aber er entdeckt auch ein Ventil: Das Schreiben von Chansons. Vorläufig legt er sie noch in einfachen Schulheften nieder; vorläufig noch singt er sie, sich auf der Gitarre begleitend, nur den engsten Freunden vor.

1952 jedoch bricht er aus seinem Kreis aus: Gute Bekannte vermitteln ihn an den belgischen Hörfunk, wo er in La vitrine aux chansons auftritt - einer Sendung, die für Belgien ähnliche Bedeutung hat wie Mireilles etwa zur gleichen Zeit anlaufende Reihe Le petit conservatoire für Frankreich oder Michael Heltaus Fernseh-Liedercircus in den siebziger Jahren für Deutschland. Und obwohl er extrem unter Auftrittsängsten leidet, singt er auch live: In den Cabarets Le Coup de Lune und La Rose Noire.

Brels damaliges Können beurteilt von OLIVIER TODD: "Brel hat noch nicht sein eigenes Universum entdeckt, seine Ausgestoßenen, seine Dreckskerle, den Bürgerkrieg der Worte und Ideen, den er gegen sich selbst führt. Er verirrt sich in vergangene Jahrhunderte, hält Frauen für rein geistige Wesen(...). Musikalisch stützt er sich auf drei oder vier Gitarrenakkorde. Seine Stimme, von klarem Timbre, aber ohne Fülle, ist die eines begabten Amateurs."

Dennoch will Brel die Laufbahn eines professionellen Sängers einschlagen. Eine günstige Gelegenheit bietet sich rasch: Am 17. Februar 1953 kann der Vierundzwanzigjährige in die Brüsseler Niederlassung von Philips seine erste Schallplatte aufnehmen - mit den Chansons La foire und Il y a.

Obgleich Olivier Todd ihre Texte hart attackiert, sie gar als Schlagsahne aus Klischees auf Pudding neorealistischer Plattheiten bezeichnet, und von der Produktion nur zweihundert Exemplare verkauft werden, fällt mit der Debüt-Single der Startschuss zur Karriere Brels. Denn Jacques Canetti, der große Protagonist des französischen Chansons und zu jener Zeit verantwortlich für den Katalog der französischen Philips, hört die Aufnahmen der Chansons La foire und Il y a, ahnt die noch verdeckten Qualitäten Brels, holt den Belgier nach Paris, lässt ihn im September 1953 in seinem renommiertem Le Thèâtre des Trois Baudets auftreten.

Auch wenn es dem Sänger zu Beginn nicht gerade glänzend geht: Die immer wieder zu lesende Aussage, Brel habe in Paris Hungerjahre durchlitten, gehören in der Bereich der Fama. Zwar empfängt ihn Paris nicht mit offenen Armen, zwar lehnen viele Veranstalter und Kritiker den Anfänger wegen seines vorgeblich unvorteilhaften Äußeren ab; doch erhält Brel anfangs Zuwendungen von seiner Familie und verdient zudem bald eigenes Geld - genug, um 1954 seine Frau mit den nunmehr zwei Töchtern in die französische Metropole nachkommen zu lassen.

Auch künstlerisch etabliert er sich schnell: Im Februar 1954 lädt Canetti ihn zur Produktion einer zweiten Schallplatte ein. Acht Chansons kann der Dichtersänger auf der neuen Aufnahme vorstellen, textlich wie musikalisch ein breites Spektrum auffächernd: Die Instrumentation der Lieder reicht von Bigband (La haine, S´il te faut) bis zum Einsatz von Solo-Oboe (Grand Jacques) oder einem allein begleitenden Cembalo (Le fou du roi), die Arrangements klingen der Instrumentation entsprechend mal jazzy, mal neobarockal.

Wie ein erratischer Block nimmt sich dagegen das Chanson Il peut pleuvoir aus: In seiner ansteckenden Fröhlichkeit, seinen lustigen Bildern und seinem musikantischem Schwung lässt es deutlich den Einfluss Charles Trenets erkennen. Eine Mehrzahl der Lieder jedoch widmet sich ernsten, ja, religiösen Themen - und zwar so engagiert, dass Georges Brassens seinem Sangesbruder den Spitznamen Abbé anhängt. Doch vermutlich geht Brassens, der Brel in den Trois Baudets begegnet ist, mit seinem Spitznamen in die Irre, versteht er die Lieder seines belgischen Kollegen zu einseitig als confessiones eines missionarisch kämpfenden Christen.

Felix Schmidt hingegen erkennt in den frühen Werken Brels die Pamphlete eines Kirchenkritikers, eines Atheisten:

"Der frühe Ruhm, den ihm solche metaphysischen Chansons eintrugen, beruhte freilich auf einem Missverständnis. Brel beklagte in einem Interview, er sei als religiöser Propagandist missverstanden und missbraucht worden. Nie, so gestand er, habe ihm daran gelegen, einen christlichen Gott zu finden."

Dieses Zitat zeigt ein Missverständnis auf, an dem aber auch Brel Anteil hat: Seine frühen Texte markieren die Position eines Atheisten nicht eindeutig, sind vielmehr noch einem Denken verhaftet, das in den katholisch-sozialen Jugendbünden wie der Franche Cordée seine Basis hat, sich gegen Unterdrückung und doppelte Moral wendet. So attackiert Brel in seiner Litanei Grand Jacques die Zeitgenossen, deren Christentum sich in der Kerzenklammerei erschöpft: 

"C´est trop facile d´entrer aux églises
De déverser toutes ses saletés
Face au curé qui dans la lumière grise
Ferme le yeux pour mieux nous pardonner"
 

 (Es ist zu leicht, zum Beichtstuhl zu treten,
Um seine Dreckkübel vor dem Priester auszuschütten,
Der im grauen Dämmerlicht die Augen schließt,
Um uns besser zu vergeben
).
 

In puncto literarischer Eigenständigkeit vermag sich Brel vor allem mit zwei Chansons seiner Anfang 1954 eingespielten Schallplatte zu profilieren: In dem poetischen Sur la place läßt der Dichter eine Tänzerin auf einem öffentlichen Platz ihre Figuren ausführen, doch die Menschen schließen die Fenster, errichten so selbst die von Schönheit und Liebe trennenden Schranken.

In Le Diable geißelt er Politik und Gesellschaft ("Alle Dreckskerle haben in den Zeitungen ihr Photo"), indem er seine bittere Kritik dem Teufel in den Mund legt - ein ungemein wirksamer Kunstgriff, dessen Maskerade es Brel erleichtert, die ungeschminkte Wahrheit zu sagen. Juliette Gréco, unbestechlich in der Auswahl ihres Repertoires, erkennt als erste den Wert von Le diable und debütiert mit diesem Chanson 1954 im Pariser Olympia.

Die nächsten Jahre des jungen Belgiers bestimmen vor allem Tourneen ... und seine Liebesaffären. Zunächst geht er eine kurze Liaison mit Catherine Sauvage ein, dann nimmt er Suzanne Gabriello, ebenfalls eine Kollegin, zu seiner Geliebten. Auf sie bezieht sich eines der berühmtesten Chansons von Brel Ne me quitte pas.

1957, inmitten seines schwierigen Privatlebens, produziert der Sänger die dritte Schallplatte - mit dem bezeichnenden Titel Quand on n´a que l´amour. François Rauber, Michel Legrand und André Popp, drei versierte Arrangeure, stehen ihm zur Seite, kleiden die Brelschen Melodien farbenfroh und nuancenreich ein: In La bourrée du célibataire, der Hymne eines Junggesellen auf seine Zukünftige, wartet Brel gar mit musikalischen Orientalismen auf, einem für ihn neuen Kolorit, dessen Exotik das Arrangement von André Popp deutlich modelliert.

Schon zwölf Monate später, im Juni 1958, erscheint die nächste Schallplatte des unermüdlich Schaffenden, nach ihrem heute quasi zur Weltliteratur gehörenden Eröffnungslied Au printemps benannt, und wieder erobert sich der Dichtersänger ein neues Klangterrain: Zwei seiner Lieder, La lumière jaillira und Voici, läßt Brel von einer Kirchenorgel nach Art eines Choralvorspiels kommentieren - eine im Bereich des Chansons völlig ungewohnte akustische Qualität von verfremdeten, aufrührerischem Charakter.

Ende 1959 soll der Sänger im Bobino für den erkrankten Francis Lemarque einspringen. Brel erhält mit diesem Angebot nicht nur die Chance, seine Premiere in der altehrwürdigen Music-Hall zu feiern, sondern auch die Möglichkeit, für die Promotion seiner gerade erschienenen fünften Schallplatte zu sorgen. Und sie umfasst nun vollends jenes Spektrum, das Olivier Todd dem jungen Brel noch in Abrede stellt: Intime Bekenntnisse wie Isabelle, eine zärtliche Berceuse für Brels dritte Tochter, Kritik an Monsieur Prud´homme, am Biedermann, wie das hintergründige Les Flamands, eine Pastorale, die hinter der Maske eines Bauerntanzes die tote Ordnung der Bürger angreift

"Sie tanzen, weil sie zwangzig sind
Und mit zwanzig sich verloben müssen,
Sich verloben, um heiraten zu könnnen,
Heiraten, um Kinder zu bekommen,
Wie es ihnen ihre Eltern gesagt haben";

Attacken gegen das Heuchlertum der Berufschristen wie La dame patronesse, ein Hassgesang, in dem die ach-so-gute Gönnerin einen Sozialisten besucht, und Liebeslieder wie Ne me quittes pas, eine Serenade, in der sich Brel wieder einmal als experimentierfreudiger Klangregisseur erweist - er umrahmt die Romanze mit den vibrierenden Schwingungen der Ondes Martenot, eines elektronischen Tasteninstrumentes, das vor allem Komponisten der sogenannten Ernsten Musik wie Olivier Messiaen oder Arthur Honegger anwenden.

Der Höhe der fünften Schallplatte Brels aber ist zweifelsohne seine schwindelerregende Abschussfahrt La valse à mille temps, ein Chanson, das deutschen Hörern später durch Michael Heltau unter dem Titel Karussell bekannt wird. Die surrealistische Dimension dieses Lebenswalzers, die aus einer kleinen Phrase erwächst, den phantastischen Aspekt dieses modernen Gegenstücks der mittelalterlichen Totentänze beschreibt Jean Clouzot in seiner Brel-Monographie:

"Der Satz scheint von einer ungeheuren Krebswucherung befallen zu sein: Er gewinnt nach und nach an Eigenleben, geht dann dem Autor durch und vereint sich ohne jede Logik mit seinen Nachbarn. Der klassische Walzer im Dreivierteltakt bringt einen Walzer im Viervierteltakt hervor, der ein Walzer von zwanzig Jahren wird, sich aufbläht zu einem Walzer von hundert Jahren, bevor ein völlig verrückter Walzer im Tausendvierteltakt erklingt. Die Maschine gerät außer Kontrolle, und nichts mehr kann sie anhalten. Die Sätze prallen aufeinander, springen zurück, geraten durcheinander, schaffen eine Erscheinung, die man in der Psychiatrie die Intoxikation durch das Wort nennt."

Der Beginn des neuen Jahrzehnts, 1961, zeigt zu dem letzten Jahr des vergangenen, 1959, eine verblüffende Parallele. Wieder hat Grand Jacques eine neue Platte herausgebracht, wieder erkrankt ein großer Star, wieder nimmt Brel dessen Vertretung an: Er springt für Marlene Dietrich ein, die im letzten Moment ihr Gastspiel im Olympia absagen muss. Sein Debüt als Vedette in der größten Pariser Musik-hall wird zum Triumphzug, der Sänger gehört nun endgültig zum Kreis der bedeutendsten Chanteurs in Frankreich, muss ab jetzt in einem Atemzug mit der Piaf, Brassens, Montand, Chevalier, Trenet oder Ferré genannt werden, wie Olivier Todd konstatiert.

Brels neue Lieder zünden sofort, bedürfen keiner Eingewöhnungszeit, keiner Schonfrist mehr, gehen seinen Hörern direkt unter die Haut, reißen sie zu Begeisterungstaumeln und Beifallskundgebungen hin, die den Rahmen der Veranstaltung zu sprengen drohen: Das Orchester unter der Leitung von Daniel Janin muss nach dem vorletzten Lied den Beifall quasi nachspielen, wie der Live-Mitschnitt Brel en public à l´Olympia 1961 dokumentiert. Der Dichtersänger präsentiert à l´Olympia seinem Publikum neue Pamphlete gegen die Verkrustung der bürgerlichen Moral, spielt den Spießern in seinem Chanson Les bourgeois gar übel zum Tanz auf: Sie seien wie die Schweine, je älter, desto viehischer, beschimpft er zum forcierten Walzertempo diverse Zeitgenossen - im Refrain unterstützt von dem Sound der Blechbläser, die vor dem Überdruck des Hasses zu bersten drohen.

Als weitere Zielscheibe nimmt er das Militär aufs Korn, indem er die stupide Karriere von Zangra nachzeichnet, einem Berufssoldaten, dessen sinnloses Leben sich in die Kapitel seiner Beförderungen gliedert.

Doch erschöpft sich Brel nicht in Hasstiraden, bleibt er nicht bei der totalen Negation stehen: In L´ivrogne plädiert er für einen Trinker, den seine Geliebte verlassen hat, der versucht, eine fröhliche Fassade aufrechtzuerhalten, innerlich aber gebrochen ist. Das seelische Auf und Ab, seine Spannung zwischen Sein und Schein zeichnet die Musik des Chansons kongenial nach. In Le moribond versucht Brel sogar dem Tod, einem seiner zentralen Themen, freundliche Seiten abzugewinnen –

"Ich will Gesang, will Spiel und Tanz,
Wenn man mich untern Rasen pflügt",

so formuliert es Klaus Hoffmann in seiner deutschen Version.

Nach seinem grandiosen Auftritt im Olympia beginnt Brel ein nun wirklich aufreibendes Tourneeleben. Etwa 130.000 Kilometer legt er jährlich zurück, fast 30 Galas gibt er pro Monat, er unternimmt Konzertreisen in die Sowjetunion, nach Polen, Rumänien, Bulgarien, nach Afrika, Lateinamerika, Kanada, in die USA ... um sich 1964 erneut im Olympia vorzustellen: Amsterdam - so heißt sein Auftrittslied. Im Hafen von Amsterdam sieht der Chanteur seine eigene Endstation, in ihn sieht er sein eigenes Lebensschiff einlaufen und konzipiert so den ersten Teil einer dramatischen Symphonie fantastique, deren weitere Sätze Le dernier repas und Tango funèbre überschrieben sind - makabre Oden, in denen Brel am eigenen Leichenschmaus teilnimmt, in denen er dem Komponisten Hector Berlioz gleich sein eigenes Begräbnis voraussieht. Die Symphonie fantastique markiert in der Laufbahn Brels den Zenit.

Bereits wenige Monate später kursieren Gerüchte, der Sänger hege die Absicht, sich von der Bühne zurückzuziehen, Gerüchte, die sich bald zur Gewissheit verdichten. 1966 eröffnet der Siebenunddreißigjährige seinem Kombattanten Charles Aznavour: "Ich will kein alter Sänger sein!" Und zur Überraschung aller setzt Grand Jacques seine Ankündigung in die Tat um: Am 16. Mai 1967 betritt der Chanteur im französischen Roubaix zum letzten Mal die Bühne (nicht am 06. Oktober 1996 im Olympia, wie einige Autoren kolportieren).

Ohne Atempause sattelt Brel um, steigt er auf sein neues Pferd, den Film. 1967 übernimmt er in André Cayettes Lichtspiel Les risques du métier die Rolle eines Lehrers, der zu Unrecht verdächtigt wird, sich an einer Schülerin vergangen zu haben. Und Jahr für Jahr schließen sich weitere Engagements vor der Kamera an: 1968 in La bande à Bonnot unter der Regie von Philippe Fourastie; 1969 in Mon oncle Benjamin, einem von Edouard Molinaro inzenierten Film; 1970 in Les assasins de l´odre und Mont-Dragon unter den Regisseuren Marcel Carné respective Jean Valère; 1972 in L´adventure c´est l´aventure von Claude Lelouch.

Ende der sechziger Jahre erobert sich Brel ein weiteres Terrain, begibt er sich auf ein neues Plateau: das Musical. Nach monatelangen Proben und Pilotversuchen übernimmt er die Hauptrolle in L´homme de la Mancha, einer Bühnenfassung des Don Quichotte (Libretto: Dale Wasserman, französische Adaption: Jacques Brel; Musik von Mitch Leigh und Joe Darion) und steht von Januar bis Mai 1969 als "Ritter von der traurigen Gestalt" im Rampenlicht des Théâtre des Champs-Elysées. Inmitten der Aufführungen ergeben ärztliche Untersuchungen: Brel hat Krebs.

Doch der unermüdliche widersetzt sich dem drohenden Tod, zwingt sich zur Weiterarbeit, erweitert gar sein Arbeitsfeld, setzt 1971 den Film Franz in Szene, für den er die Sängerin Barbara engagiert, übernimmt zwei Jahre später Regie und Drehbuch von Far-West, einer Hommage an den Wilden Westen.... doch ist der Tod ihm hart auf den Fersen. 1974 veröffentlicht der Regisseur Denis Heroux noch eine musikalische Rückblende mit dem sarkastischen Titel Jacques Brel is alive and well and living in Paris - dann wird es still und stiller um den Künstler.

1977 aber bäumt Brel sich noch einmal auf, geht nach langen Jahren wieder in ein Aufnahmestudio, produziert todkrank seine letzte Platte, hinterlässt sein musikalisches Vermächtnis, sein großes Testament, singt sich die Seele aus dem Leib, sendet eine letzte Botschaft an seine Frau, seine Freunde, beschwört ein letztes Mal den großen schwarzen Vogel:

"Sie sprechen über den Tod, wie Du über eine Frucht sprichst!" –

so heißt es in dem Chanson Aux Marquises, dem Abgesang der letzten Platte von Grand Jacques. –

"Ich liebe die Wörter. Ich habe Respekt vor ihnen. Man verplempert sie zu häufig. Man wägt nicht alle ab. Oft brauche ich Jahre, bis ich die Erscheinungen, an denen ich leide - und es gibt genug davon -, in Wörter fassen kann. Diese Wörter (...), ich werde ihr Bruder und gebe ihnen Farbe. Wenn ich ein Chanson schreibe, tue ich es in Schwarzweiß. Aber von Zeit zu Zeit gibt es ein Wort in Farben, dem ich eine neue Dimension verliehen habe."

Brels Achtung vor den Wörtern schlägt sich in einer sorgfältigen Behandlung des sprachlichen Materials nieder, kommt in einem ausgefeilten Stil zum Tragen: in scheinbar spielerischen Homophonen

"du porto que tu rapportas de la sorte des Lilas, "une valse à vingt ans",

in freien Wortschöpfungen

"une maison qui se tire-bouchonne", "je me suis dejumenté",

in der häufigen Anwendung gegensätzlicher oder widersprüchlicher Wortpaare

"j´avais l´oeil du berger et le coeur de l´agneau", "tu avais perdu conquête",

in der Vermischung von Sprachen (Marieke, Rosa).

Brels souveränem Umgang mit der Poesie entsprechen seine eidetische Potenz, neue Klangweiten zu schauen, eine musikalische Bildung, sein Grenzen wie Gattungen missachtendes Ohr. So steht ihm eine farbenreiche Palette von Stilen zur Verfügung: Ob er auf folkloristische Motive zurückgreift (L´ivrogne, Les Flamandes), ob er Elemente sakraler Musik verwendet (La lumiére jaillira), ob er sich der Montage bedient (Le lion), ob er sich auf den aggressiven Sound eines Jazz-Orchesters besinnt (La haine, Les remparts de Varsovie) oder ob es sich klassischer Vorlagen erinnert, wie in seinem Chanson Les désespéres, das von dem zweiten Satz des Klavierkonzerts G-dur Maurice Ravels beeinflusst ist, - stets ordnet er die Kompositionen seiner Ideenwelt unter, seinem Universum aus Bürgerhass und Pfaffenschreck, aus Tod und Liebe.

Obwohl Brel auf traditionellen musikalischen Mustern aufbaut, bedient er sich nicht bequem eines vorgefertigten Materials, verlötet er nicht im Fertigbauverfahren bereits zugeschnittene Teile, sondern schmilzt er mit Hilfe der Harmonik, des Kontrapunkts sowie der Instrumentation vorhandene Elemente zu einer neuen Legierung um, die den harten Belastungsproben seiner Texte gewachsen ist. In den bedingungslosen Dienst seiner Poesie stellt sich auch Brel, der Chanteur.

FELIX SCHMIDT erinnert sich:

"Während seiner Tour de chant erfand Brel, der stets im weißen, knopflosen Hemd auftrat, fortwährend neue Mimikspiele und Gesten - nichts war einstudiert. Er leistete sich Hanswurstiaden, um groteske Effekte seiner Lieder deutlicher zu machen, und wenn er nichts zu tun hatte, dirigierte er seine Vier-Mann-Band: Brel stand keinen Augenblick still. Wenn der Vorhang nach 45 Minuten fiel, hatte der erschöpfte Sänger gewöhnlich ein Kilo Gewicht verloren."

(Aus dem Hermes Handlexikon: Die großen Chansonniers und Liedermacher von Matthias Henke)

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