Im bohemistischen Zwischenreich

Drafi Deutscher, ein echtes Teufelsgeigerkind, der rockende Poet des "Dam Dam, Dam Dam", ist gestorben.

Berlin, das ist unvorstellbar heute, Berlin war einmal eine Großstadt. Berlin war eine Lasterhöhle, eine finstere Spelunke, belebt von Nachtgespenstern, Schubiaks, Ganoven, Zockern, Nutten und all dem halbweltlichen Gesindel, das zuletzt in dem Bildungsroman „Berlin Alexanderplatz“ (1929) zum Vorschein kam.

Von da an ging’s, wie eine Berliner Poetin hinterher weissagte, entschlossen bergab. Noch bei Kriegsende, als die Russen massenvergewaltigten und die Russland-Heimkehrer um Walter Ulbricht ein neues Deutschland aufbauen wollten, weste in den Ruinen ein bohemistisches Zwischenreich aus lauter Schattenwesen, die sich irgendwie durchgeschlagen hatten.

Aus diesem Milieu kam das Nachkriegskind Drafi Deutscher. Angeblich war er der Sohn eines ungarischen Teufelsgeigers, und er sang von Herz und Schmerz wie keiner vor und keiner nach ihm.

Drafi war deutscher als deutsch, er war der Zigeunerjunge, der kein Baron sein durfte. Der fremdbürtige Musik vortrug, als sie im gesunden Volksempfinden noch als Negerkrach galt, und der (mit freundlicher Unterstützung seines Produzenten Christian Bruhn) einige der kühnsten Reime der modernen Lyrik zustande brachte: „Weine nicht, wenn der Regen fällt / Dam Dam, Dam Dam. / Es gibt einen, der zu dir hält, / Dam Dam, Dam Dam.“

Das war Roger Miller auf Deutsch, Lastwagenfahrerpoesie, seltsam gesteilt und später wegen seiner flittrigen Poesiealbumsbombastik nicht zufällig zur Schwulen-Hymne veredelt. Das kam zwar aus Deutschland, hatte aber so gar nichts von dem frontstädtischen Notopfer- und Fordstiftungs-Berlin, sondern richtig Weltniveau.

Alles, was draußen in der Welt Rock’n’Roll war, lebte unser deutscher Drafi vorbildlich nach: er urinierte in aller Öffentlichkeit wie die Rolling Stones, belästigte Minderjährige wie Gary Glitter, vernutzte kaum nubile Groupies wie noch jeder durchreisende Rocker, kokste mehr als ganz Hollywood zusammen und soff sich dann doch lieber planvoll zu Tode. Andere mochten vom siebzehnjährigem Blondhaar schnulzen und noch extra Sahne draufgeben, Drafi Deutscher trieb es immer noch eins bunter und machte es immer noch fetter.

Er kannte keine Pathos-Bremse, erhob die eingeborene Dummheit des deutschen Schlagers zur Tugend, barockte ein kunterbuntes Schlagerenglisch aus überfütterten Emotionen und ganz viel Schutzengeln zusammen und ließ es bis an die Demenzgrenze sülzen: „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht. / Alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu.“

Am Freitag ist Drafi Deutscher in Frankfurt gestorben, und er starb, wie es nur den großen Liebenden zukommt: An gebrochenem Herzen. Wer auf sein eigenes hört, wird ihm mehr als eine Träne nachweinen.

WILLI WINKLER
Süddeutsche Zeitung