HOLGER CZUKAY

Begegnung mit dem Genie, dem Irren, dem Kind. Einem der Größten unserer Zeit.

*24. März 1938 in Danzig
† 5. September 2017 in Weilerswist
(79 Jahre)


- Wikipedia

- Nachruf im SPIEGEL

- Nachruf im Kölner Stadt-Anzeiger

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Holger Czukay
war die Seele von Can und der Bassist dieser weltweit einflussreichen deutschen Band.

Erinnerungen an ein schelmisches Genie, an einen der Größten unserer Zeit.

SPIEGELONLINE , 6. 9. 2017
von ARNO FRANK

Es war ganz leicht, zu Holger Czukay höchstpersönlich vorzudringen. Vor knapp vier Jahren, im tristen Weilerswist, südlich von Köln, musste man zunächst in der Bäckerei Lennartz vorsprechen, deren Verkäuferin dann "hinten" anklingelte, im Studio, das früher einmal ein Kino gewesen war.

Nach einer Weile kam ein wunderlicher alter Mann vorbeigeschlurft, mit sockenlosen Füßen in Sandalen und Eidotter auf dem Pullover, kaufte noch ein "leckeres Teilchen" für seine Frau, die derzeit leider krank sei, daher seine Verspätung. Dazu kicherte er wie das Kind, das ihm auch mit 74 Jahren noch wach aus den Augen schaute.

Das Studio war eine halbdunkle Mischung aus Höhle und Halle, verstellt mit altem Equipment und verhängt mit Tüchern. Wenn hier noch ein Geist umging, dann in Person von Holger Czukay - der hier nicht nur arbeitete, sondern auch lebte. Zwei Zustände, zwischen denen er zeitlebens "ums Verrecken" keinen Unterschied erkennen konnte.

Beschränkung ist die Mutter der Innovation

Geboren 1938 in Danzig als Holger Schüring, sammelte der junge Vertriebene als Musiklehrer und Bassist in amateurhaften Beat- und Jazz-Combos erste Erfahrungen: "Bass", erklärte er fröhlich, "weil man da die Fehler nicht so hört". 1963 sprach er am Kölner Konservatorium für Musikwissenschaften vor, "da war ich ganz schön naiv, ich konnte ja gar nichts. Das habe ich dem Karlheinz Stockhausen auch gleich gesagt", der sich davon allerdings nicht beeindrucken ließ und Czukay als Lehrer unter seine Fittiche nahm.

Tatsächlich gab es kaum ein Instrument, das er nicht beherrscht hätte - und sei es auch nur mehr schlecht als recht. Der Gitarre oder dem Waldhorn konnte er Melodien entlocken, das genügte ihm. Auch den Lehren des Großmeisters der Neuen Musik mochte Czukay nicht ganz folgen, weshalb akademische Weihen als "Komponist" nicht zu erwarten waren. Was er bei Stockhausen gelernt hatte, sei aber der "Mut zum Risiko" gewesen, dem eigenen Dilettantismus mit Duldsamkeit zu begegnen. Beschränkung, hatte er in Köln gelernt, sei die Mutter aller Innovation.

Zusammen mit dem befreundeten Keyboarder Irmin Schmidt gründete Czukay 1968 ein zunächst loses Experimentierkollektiv, das sich bald unter dem Namen The Can zur echten Gruppe zusammenrütteln sollte. Der Geist, in dem hier musiziert wurde, ist schon auf den frühesten Demo-Bändern zu hören, für die Aufnahmen der Studentenunruhen in Paris als Samples verwendet wurden.

Das Studio als Instrument betrachtet

Ihre Abkehr von konventioneller Musik angloamerikanischer Prägung, aus der Not geboren, führte sie zu einer Öffnung für repetitive und improvisatorische Elemente. Von den nicht selten bekifften Zeitgenossen wurde diese Musik als psychedelisch wahrgenommen. Can schielten auf Edgar Varèse, nicht auf Jimi Hendrix. Sie hätten "die Hauptlinie links" überholt, sagte Czukay.

Als Kind hatte er schon antiquierte Volksempfänger auseinandergenommen. Nun wuchs er rasch in die Rolle des Tüftlers und damit Toningenieurs hinein. Als Bassist von Can war er zwar Teil der legendär motorischen Rhythmusgruppe mit Jaki Liebezeit am Schlagzeug, in seinem Spiel aber beinahe lyrisch und ruhig. Er war vielleicht nicht der Motor, aber doch die Seele der Gruppe.

Als Mann an den Knöpfchen und Reglern gehörte er zu den ersten Künstlern, die das Studio selbst als Instrument betrachteten, und nutzte dessen Möglichkeiten auf seine ganz eigene, eben spielerische Weise. Während die Kollegen noch versonnen vor sich hindudelten, ließ Czukay bereits die Bänder laufen - und hielt so das Zufällige für die Ewigkeit fest.

Während die breiten Massen und die Plattenfirmen den klanglichen Ausfallschritten von "Monster Movie" oder "Tago Mago" eher ratlos begegneten, schienen Regisseure nur auf die rauschhafte Monotonie der modernistischen Klangflächen von Can gewartet zu haben. Verwendet wurden sie in insgesamt 21 Filmen, von "Das Millionenspiel" über Francis Durbridges "Das Messer" ("Spoon", 1971) bis zur Erkennungsmelodie des ZDF-Kulturmagazins "Aspekte" ("Aspectacle", 1978).

Heute gilt die Verwendung technischer Hilfsmittel bei gleichzeitiger Verweigerung jeder offensiv ausgestellten Virtuosität als bahnbrechend für ganz Generationen von Musikern. Die Liste derer, die sich auf Can berufen, reicht von Marc Bolan bis zu Radiohead und ließe sich endlos fortsetzen. "Wir hatten, wie Stockhausen gesagt hätte, die Wand durchbrochen", erklärte Czukay.

Ein Eulenspiegel, der über die Folgen seiner Streiche kichert

Nach der Trennung von Can, am Ende der Siebzigerjahre, blieb der Mann einfach im Studio sitzen und experimentierte weiter. Mit explodierender Kreativität, deren Methoden ihrer Zeit weit voraus waren. Schon 1978 fing er zufällige Programme aus aller Welt über sein Kurzwellenradio ein, sammelte atmosphärische Störgeräusche, klebte die Bänder dieser akustischen objets trouvés eigenhändig zusammen, steuerte echte Instrumente bei - und schuf so nicht nur humoristische Collagen und dystopische Prä-Industrial-Skizzen, sondern auch frühe Beispiele dafür, wie berührend und universell der Einsatz von Samples sein kann.

In den folgenden Jahren spielte er auf der ersten Platte der Eurythmics, machte Dub mit Jah Wobble, trommelte für Peter Gabriel, beeinflusste das Gitarrenspiel von The Edge ("Gerade, weil ich nicht spielen konnte!"), heiterte David Sylvian auf, ermunterte The Mars Volta zu ihrem wesensverwandten Irrsinn oder setzte Damon Albarn den Floh einer "virtuellen Band" ins Ohr, aus dem die Gorillaz werden sollten. Im Gespräch erinnerte er sich daran mit großer Heiterkeit. Kein Greis, der nach Anerkennung kräht. Ein Eulenspiegel, der über die Folgen seiner Streiche den Kopf schüttelt.

Nach dem Tod gefragt, lächelte er sein schelmisches Lächeln und machte eine wegwerfende Handbewegung. Nein, der eigene Tod kümmere ihn nicht. Solange er lebe, gehe der ihn nichts an. Und stelle der Tod sich doch eines Tages ein, sei er schon fort. Der Mann hatte seinen Epikur gelesen. Und las noch immer die aktuelle Musikpresse, "wie ein Teenager", schwärmte über die Texte von Jens Balzer in der "Berliner Zeitung" und von Albert Koch im "Musikexpress".

Beim Abschied sprach er noch von seinem Traum, eines Tages Can wieder auferstehen lassen zu wollen. Nicht mit Musikern, "das wäre albern", sondern aus sich selbst heraus: "Originale Elemente, kleine Partikel aus Klang, sozusagen DNA-Sequenzen", aus denen heraus er der Musik "mit elektronischen Mitteln" zu einer Unsterblichkeit verhelfen wollte, die sie doch längst schon hat - und in die er ihr nun gefolgt ist.

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Es ist übrigens noch immer ganz leicht, zu Holger Czukay vorzudringen. Man höre nur das liebende "Persian Love" oder das lächelnde "Cool in The Pool", am besten beide Stücke, in dieser Reihenfolge, und man begegnet ihm höchstpersönlich.

Dem Genie, dem Irren, dem Kind.
Einem der Größten unserer Zeit.

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Nachruf auf
Holger Czukay

Kölner Stadt-Anzeiger
6. September 2017
von CHRISTIAN BOS

Ganz allein sitzt der Mann im ehemaligen Kinosaal von Weilerswist, dessen Wände er mit Matratzen ausgekleidet hat. Er lauscht fernen Stimmen aus dem Kurzwellenradio, ein Farsi-Sänger, eine persische Schönheit, die ihm zu antworten scheint, könnte auch indisch sein.

Später, als er diese Fundstücke aus dem Äther für seinen „Persian Love Song“ verwendet – wer braucht schon einen Sänger, wenn sich Stimmen aus der Luft einfangen lassen? – kombiniert Holger Czukay sie mit einer fröhlich dahinperlenden Gitarre, die eine Brücke zwischen afrikanischer Highlife-Musik und hawaiianischen Ukulelen baut – und schlägt auf diese Weise auch der Orientalismusfalle einen Haken(?).

Dieser „Persian Love Song“ aus dem Jahr 1979 ist eines der frühesten Beispiele für Sampling im Pop, die „Kunst“ des Zitats, der geklauten Kopie. Zwei Jahre später griffen Brian Eno und David Byrne Czukays Idee auf und machten daraus ein ganzes, nicht minder großartiges Album, „My Life in the Bush of Ghosts“.

Can war die einflussreichste Band aus Köln

Man findet das Stück auf „Movies“, dem ersten Album, das Czukay veröffentlichte, nachdem er Can verlassen hat. Man hatte sich zu Tode kritisiert, begründete Czukay später seinen Bruch mit der einflussreichsten Band, die jemals aus Köln kam. Doch man blieb befreundet und die gesamte Band spielte auf „Movies“ mit, hörbar erleichtert von der Bürde, Can zu sein.

Es war von Anfang an das aller unwahrscheinlichste Zusammentreffen von Musikern gewesen. Jaki Liebezeit war ein Free-Jazz-Schlagzeuger auf der Suche nach neuen Regeln; Irmin Schmidt ein klassisch ausgebildeter Dirigent.

Czukay und Schmidt lernten sich in Karlheinz Stockhausens Kursen für Kompositionslehre kennen. Czukay hatte sich dem Meister mit dem Bekenntnis anempfohlen, durch sämtliche Konservatoriumsprüfungen gefallen zu sein. Eine Zeit lang hatte er den alternativen Plan verfolgt, reich zu heiraten und zu diesem Zweck eine Stelle als Musiklehrer an einem Elite-Internat in der Schweiz angenommen. Statt einer Frau brachte er von dort seinen hochbegabten Gitarrenschüler Michael Karoli mit nach Köln, der ihn schließlich doch noch von der innovativen Kraft der Rockmusik hatte überzeugen können.

Can waren überall berühmt, nur nicht in Köln

Nominell übernahm Czukay bei Can den Part des Bassisten, tatsächlich war er eher so etwas wie der Zampano der Band, der die endlosen Jamsessions seiner Mitmusiker – zuerst in Schloss Nörvenich, später im Weilerswister Inner Space Studio – auf Tonband mitschnitt, auf der Suche nach den magischen Momenten, in denen vielleicht gerade Missverständnisse zwischen den so unterschiedlich ausgebildeten Spielern, zufällige Fehler, zu etwas völlig Neuem führten. Sich selbst bezeichnete Czukay als universellen Dilettanten, jemanden, der alles, aber nichts richtig konnte – und gerade deshalb fündig wurde. Vergleichbare Rollen spielten etwa Teo Macero für Miles Davis und Brian Eno für Roxy Music, ihnen allen war bewusst geworden, dass die Aufzeichnung von Musik im Studio selbst ein Instrument ist.

Die ersten Can-Alben – „Monster Movie“, „Tago Mago“, Ege Bamyasi“, Future Days“ – veränderten die Geschichte mindestens der populären Musik, beeinflussten Künstler von David Bowie bis Radiohead, von den Eurythmics bis zu den Red Hot Chili Peppers, von Joy Division bis Pavement. John Lydon bot sich Can nach der Auflösung seiner Sex Pistols als neuer Sänger an, Damon Albarn gründete auf Czukays Vorschlag hin die virtuelle Band Gorillaz, Kanye West sampelte Songs der Sampling-Pioniere. Kurz, Can waren eigentlich überall weltberühmt, nur nicht in Köln.

„Ich bin eine lebende Suchmaschine“

Auf Czukays Soloalben, aus dem Geist des „alles geht, nichts muss“ entstanden, findet sich jener rheinische Humor, der sich im Kritikfeuer der Band oft aufrieb, der hübsch bekloppte „Bankel-Rap“ oder die in Richtung Disco ziehende Marschmusik von „Der Osten ist rot“. Dort, in der Freien Stadt Danzig, war Czukay am 24. März 1938 als Holger Schüring geboren worden. Noch während des Zweiten Weltkriegs floh die Familie in den Westen. Der Großvater, ein Schuldirektor, hatte den Stammbaum der Familie gefälscht, um seine Stelle unter der Nazi-Diktatur behalten zu können. Als der Enkel später von zwei polnischen Sängerinnen, mit denen er in Duisburg auftrat, erfuhr, dass „Czukay“, sein eigentlicher Familienname, „Suche“ bedeutet, nahm er ihn dankbar wieder an: „Ich bin eine lebende Suchmaschine“, verkündete er noch in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag.

Das war er, fast bis zuletzt. Als seine Frau Ursula, die unter den Künstlernamen U-She (und später Ursa Major) mit ihm zusammen musizierte, schwer erkrankte, zog sich der sonst vor Jovialität und Anekdoten sprühende Czukay zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück. Am 28. Juli, an ihrem 55. Geburtstag, starb Ursula.

Am Dienstag, nur wenige Wochen nach dem Tod seiner Frau, fand ein Nachbar den toten Musiker im zur Wohnung umgebauten Can-Studio in Weilerswist. Holger Czukay wurde 79 Jahre alt, wir wollen uns vorstellen, dass er bis zuletzt den Stimmen aus dem Radio gelauscht hat.

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