Christian Meier:

"Wir haben heute Gedankenfreiheit. Aber wir denken uns nichts mehr."

Auf die Frage von Johan Schloemann, ob die Legitimationsbasis des demokratischen Systems bröckele,... ob die Identifikation mit diesem Staat nur am Geld hänge,

antwortet Christian Meier:

...man muss sich fragen, was diese Demokratie überhaupt erfahrbar macht. Die alte Bedeutung von Demokratie impliziert doch, dass wir irgendwie was zu sagen haben... Nun, sagen können wir heute alles, es nimmt nur keiner ernst, während man früher bei manchen Äußerungen geschossen oder verhaftet hat. Heute lassen die Regierenden die Leute reden, was sie wollen.

Bleibt also der Gang zur Wahl. Was machen wir da? Wir überlegen uns, wen wir wählen, so, als hätten wir Vertreter von verschiedenen Krankenkassen vor uns. In den fünfziger und sechziger Jahren hatte man noch den Eindruck, dass die Entscheidung für eine Partei existentielle Fragen berührte: Wiederbewaffnung, Mitbestimmung.

Natürlich haben weltanschauliche Parteileidenschaften auch etwas Fragwürdiges - aber heute scheinen nur noch Einzelinteressen übrig geblieben zu sein. Politische Fragen im eigentlichen Sinne - also Fragen, was der Staat insgesamt tun soll - werden kaum noch in der Bürgerschaft diskutiert. Wir haben Gedankenfreiheit - aber wir denken uns nichts mehr! Die Demokratie ist auf diese Weise kaum spürbar - dafür Beengungen und Bevormundungen durch die Bürokratie umso mehr.

Ist das aktive Bürgergefühl Opfer des Erfolgs der Wohlstandsdemokratie geworden?

Ja, und ich weiß nicht, was passiert, wenn der Wohlstand schwindet. Es erscheint mir eher unwahrscheinlich, dass sich dann noch einmal eine große Bewegung der Benachteiligten annimmt wie einst; dafür ist die Gesellschaft wohl doch schon zu privatisiert, als dass sich die Massen in solcher Weise aufraffen werden.

Gefahren werden wohl eher von Terrorgruppen, von organisierter Kriminalität ausgehen. Ich habe jedenfalls ganz allgemein das Gefühl, dass es so friedlich nicht weitergehen kann. Das widerspricht der historischen Erfahrung....


Der ganze Artikel: "Bin ich ein Auslaufmodell, dass ich nach der Zukunft frage?" Der Historiker Christian Meier wird achtzig Jahre alt. Ein Gespräch über deutsche Demokratie, griechische Freiheit und den Jahrgang 1929. Interview: Johan Schloemann in: Süddeutsche Zeitung, 2009-02-16.


Christian Meier ist Althistoriker. Er lebt in Hohenschäftlarn bei München. Er wurde 1929 in Stolp (Slupsk), Pommern, geboren. 1966 veröffentlichte er seine Habilitationsschrift "Res publica amissa" ("Krise ohne Alternative"). Untersuchungen über "die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar", Cäsar-Biographie 1982. Professuren in Basel, Köln, Bochum, seit 1981 München. Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1996 bis 2002.

- "Die Entstehung des Politischen bei den Griechen" 1980,
- "Die politische Kunst der griechischen Tragödie" 1988,
- "Athen" 1993.
- "Die parlamentarische Demoktratie" 1999,
- "Von Athen nach Auschwitz" 2002.
- "Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge - Anfang Europas?" 2009.

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