Warum 'Facebook Revolutionen' scheitern

Wael Ghonim: Wenn wir die Gesellschaft befreien wollen, müssen wir als erstes das Internet befreien

von Thomas L. Friedmann


THE NEW YORK TIMES INERNATIONAL WEEKLY
FREITAG, 19. FEBRUAR, 2016
>Meinungen & Kommentare<
Deutsch: Karlheinz Damerow


In den letzten paar Jahren wurden uns einige "Facebook Revolutionen" spendiert, vom Arabischen Frühling zu Occupy Wall Street, zu den Marktplätzen von Istanbul, Kiew und Hong Kong. Doch sobald sich der Rauch verzogen hatte, gelang es den meisten dieser "Revolutionen" nicht, eine zukunftsfähige neue politische Ordnung herauszubilden. Hauptursache: Die Verstärkung so vieler Stimmen machte die Herstellung eines Konsenses (die übereinstimmende Meinung von Personen zu einer bestimmten Frage ohne verdeckten oder offenen Widerspruch) unmöglich.

Frage: Könnte es am Ende so sein, dass "social media" besser dazu taugt, Dinge kaputt zu machen, als Dinge zu schaffen?

Kürzlich beantwortete diese Frage eine wichtige Stimme mit einem großen "JA". Es war die von Wael Ghonim, dem Ägyptischen GOOGLE-Angestellten, der mit seiner anonymen Facebook-Seite dazu beigetragen hat, die Tahrir-Platz-Revolution Anfang 2011 in Gang zu setzen, die zum Sturz von Präsident Hosni Mubarak führte – dann aber versagte, eine wahrhaft demokratische Alternative entstehen zu lassen.

Im Dezember veröffentlichte Ghonim, der seitdem ins Silicon Valley gezogen ist, einen TED Beitrag darüber, was schief gelaufen ist. Darin heißt es am Anfang: "Ich habe mal gesagt, 'Wenn Du eine Gesellschaft befreien willst, brauchst Du nur das Internet'. Ich hatte unrecht. Dies sagte ich damals, 2011, als eine von mir anonym gegründete Facebook-Seite half, die Ägyptische Revolution zu entfachen. Der Arabische Frühling zeigte die größten Möglichkeiten von "social media", offenbarte aber auch seine größten Mängel. Dasselbe Werkzeug, das uns zum Sturz von Diktatoren zusammen brachte, brachte uns letzten Endes auseinander."

In den frühen 2000er Jahren strömten Araber in Scharen ins Internet, so Ghonim: "Durstig nach Wissen, Möglichkeiten, Kontakten mit Menschen weltweit, entkamen wir unserer frustrierenden politischen Realität und lebten ein virtuelles, alternatives Leben."

Und dann, im Juni 2010, so Ghonim, "änderte das Internet mein Leben unwiederbringlich. Auf Facebook sah ich ein Photo... eines gefolterten, toten Körpers eines jungen Ägypters. Sein Name war Khaled Said. Khaled war 29 Jahre, aus Alexandria und von der Polizei getötet worden. Ich sah mich selbst in seinem Bild. ... Ich startete anonym eine Facebook-Seite und nannte sie 'We Are All Khaled Said'. In nicht einmal drei Tagen teilten über 100.000 Menschen, ägyptische Landsleute, die Sorgen dieser Seite.

Bald nutzten Ghonim und seine Freunde Facebook für Massen-Ideen (crowd-source). So "wurde die Seite die mit den meisten Aufrufen in der arabischen Welt. ... "Social media" war für diesen Kampf äußerst wichtig. Es ermöglichte ein dezentralisiertes Anwachsen der Bewegung. Die Menschen erkannten(?fühlten?), dass sie nicht alleine waren. Und das Regime konnte es nicht aufhalten".

Ghonim wurde schließlich in Kairo durch ägyptische Geheimdienste aufgespürt, verprügelt und dann elf Tage lang in Isolierungshaft gehalten. Aber drei Tage nach seiner Entlassung, führten Millionen Protestierender als Reaktion auf seine Facebook-Einträge zum Zusammenbruch von Mubaraks Regime.

Leider verflüchtigte sich die Euphorie bald, sagte Ghonim. "Wir schafften es nicht, Einigkeit herzustellen. So führte die politische Auseinandersetzung zu immer stärkerer Polarisierung". Er stellt fest, "social media" verstärkt die Polarisierung, „indem es die Verbreitung von Falschinformationen, Gerüchten, Echokammern und Hass und Hetze begünstigt. Das Milieu war völlig vergiftet. Meine Internetwelt wurde ein Schlachtfeld voller Trolle, Lügen und Hassausbrüchen."

Anhänger der Armee und die Islamisten nutzten "social media", um sich gegenseitig zu verleumden, während das demokratische Zentrum, das Ghonim und so viele andere besetzten, an den Rand gedrängt wurden. Ihre Revolution wurde gestohlen von den Muslim Brüdern und, als diese versagten, von der Armee, die dann viele der säkularen Jugendlichen verhaftete, die anfänglich die Revolution stark gemacht hatten. Die Armee hat ihre eigene Facebook-Seite, um sich zu verteidigen.

Ghonim: "Es war der Moment der Niederlage. Ich blieb mehr als zwei Jahre still, und ich nutzte die Zeit, über alles nachzudenken, was geschehen war." So lauten seine Schlussfolgerungen über "social media" heute:

Erstens
wissen wir nicht, wie wir mit Gerüchten umgehen. Gerüchte, die Vorurteile von Menschen bestätigen, werden geglaubt und verbreiten sich millionenfach.

Zweitens
neigen wir dazu, nur mit Leuten zu kommunizieren, mit denen wir übereinstimmen, und dank "social media"
(deren Funktionsweisen in Form von Rechenvorschriften (Algorithmen) bestimmt werden, die absolut demokratie-unverdächtig von den ungeniert profitgeilen Machern in "silicon valley" vorgegeben werden) können wir alle übrigen (anderslautenden Meinungen in unserer Selbstwahrnehmung) unterdrücken, nicht bestätigen (un-follow) und blockieren.

Drittens
verkommen Internet Diskussionen schnell zu wütenden Massen (mobs). ... Es scheint, dass man vergisst, dass die Menschen hinter den Bildschirmen tatsächlich reale Menschen sind und nicht nur virtuelle Figuren (Avatare).

Und viertens
wurde es wirklich schwer, unsere eigenen Meinungen zu ändern
(auch nur, zu präzisieren). Wegen der Schnelligkeit und der Kürze des Ausdrucks der "social media" werden wir gezwungen, über komplexe Angelegenheiten der Welt schnelle Schlussfolgerungen zu ziehen und scharfe Meinungen in 140 Zeichen zu formulieren. Und sobald dies geschehen ist, lebt alles in alle Ewigkeit im Internet.

Fünftens
und am entscheidensten ist, dass unser Erleben von "social media" so verfasst ist, dass das Senden einen höheren Stellenwert hat als das Eingehen von Verpflichtungen, dass das Veröffentlichen von Meinungen (posts) mehr zählt als Diskussionsbeiträge, flache Kommentare mehr als tiefer schürfende Auseinandersetzungen... Es scheint so, als sei es allgemeines Einverständnis, dass es einzig darauf ankomme, uns gegenseitig etwas zu sagen, anstatt mit einander zu sprechen.

Ghonim hat nicht aufgegeben. Gemeinsam mit ein paar Freunden hat er kürzlich eine Internetseite gestartet, Parlio.com, die einen Platz geben soll für intelligente, zivile Auseinandersetzungen über strittige, oft heiß diskutierte Themen, mit dem Ziel, die Differenzen zu verringern, nicht zu vergrößern.

Ghonim kommt zu dem Schluss: "Vor fünf Jahren sagte ich noch, 'Wenn man eine Gesellschaft befreien möchte, dann braucht man nur das Internet'. Heute glaube ich, wenn wir eine Gesellschaft befreien wollen, dann müssen wir zuerest das Internet befreien."

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